Okt 25th, 2012
Was macht den Darm dauerhaft krank?
Europaweites Netzwerk zur Erforschung des Reizdarmsyndroms unter Federführung des Universitätsklinikums Heidelberg / European Science Foundation fördert mit 500.000 Euro / Ursachen verstehen, Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten verbessern
Wissenschaftler aus 19 europäischen Ländern haben sich erstmals zu einem fachübergreifenden Netzwerk zusammengeschlossen, um die Ursachen des chronischen Reizdarmsyndroms zu erforschen sowie Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zu verbessern. Die European Science Foundation fördert den Verbund unter Federführung von Privatdozentin Dr. Beate Niesler vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Heidelberg in den kommenden vier Jahren mit 500.000 Euro. Rund fünf Millionen Betroffene in Deutschland leiden oft über Jahre unter Bauchschmerzen, Verstopfung oder Durchfall, häufig begleitet von weiteren Erkrankungen wie Migräne, Angststörungen und Depressionen. Bisher können lediglich Symptome behandelt werden.
An dem Netzwerk GENIEUR (Genes in Irritable Bowel Syndrom Europe) beteiligen sich mehr als 70 Forschungsgruppen. „GENIEUR ist weltweit der erste groß angelegte und interdisziplinäre Ansatz zur Erforschung des Reizdarms“, erklärt Sprecherin Dr. Beate Niesler, Leiterin der Arbeitsgruppe „Neurogastrointestinale und psychiatrische Erkrankungen“ am Institut für Humangenetik. „Wir wollen nicht nur charakteristische Veränderungen im Erbgut der Betroffenen identifizieren, sondern auch eine Vielzahl möglicher Zusammenhänge prüfen – z.B. wie das Reizdarmsyndrom mit Lebensstil, Ernährung, Allergien, psychischen Erkrankungen, Schmerzsyndromen, vorangegangenen Infektionen oder Veränderungen in der Darmflora verbunden ist“, so die Biologin. Wichtig sei auch, einheitliche Diagnosekriterien und Untergruppen der Erkrankung zu definieren, damit Patienten schneller von einer passenden Therapie profitieren. Beteiligt sind neben Gastroenterologen und Humangenetikern auch Ernährungswissenschaftler, Psychiater, Immunologen, Physiologen, Neurobiologen, Mikrobiologen, Bioinformatiker und Epidemiologen.
Bestimmte Veränderungen im Erbgut begünstigen Reizdarmsyndrom
Das sogenannte Reizdarmsyndrom (RDS) ist eine der häufigsten Erkrankungen des Verdauungstraktes: Bis zu 15 Prozent der Bevölkerung in Europa leidet daran. Allgemeinbefinden und Lebensqualität der Patienten sind stark beeinträchtigt: Je nach Art und Schwere der Symptome können sie das Haus kaum noch verlassen, Beruf und Hobbys nicht mehr nachgehen. Da man bisher wenig darüber weiß, wie es zum Reizdarmsyndrom kommt, gestalten sich Diagnose und Therapie schwierig. Die Diagnose erfolgt derzeit über den Ausschluss anderer Erkrankungen, bei der Behandlung muss ausprobiert werden: Was bei dem einen Patienten die Symptome lindert, z.B. spezielle Entzündungshemmer, bleibt beim anderen wirkungslos – ein langwieriger Prozess, der bei vielen Patienten nicht zum Erfolg führt.
2008 entdeckte das Team um Dr. Niesler, dass die nervösen Störungen des Darms von Veränderungen im Erbgut begünstigt werden können: Bei Patienten, die an RDS mit Durchfällen leiden, ist häufig die genetische Bauanleitung für bestimmte Rezeptoren im Darm verändert. Die Rezeptoren sitzen auf der Oberfläche der Darmzellen und binden das Hormon Serotonin. Sind sie verändert, ist die Signalweiterleitung im Darm gestört. Dieses Forschungsergebnis lieferte den ersten Ansatz für eine gezielte medikamentöse Therapie. „Allerdings sind die Rezeptoren nur bei einem Teil der Patienten verändert. Wir gehen davon aus, dass es mehrere Varianten dieser Erkrankung gibt, die jeweils auf andere molekulare Ursachen zurückgehen“, sagt Niesler.
Neue Diagnosekriterien sollen Therapie vereinfachen
Um diese molekularen Faktoren aufzuspüren, bauen die Teams nun die erste Biobank mit Stuhl- und Gewebeproben von Patienten und gesunden Kontrollpersonen auf und erfassen systematisch Patientendaten. Damit wollen sie zuverlässige Biomarker identifizieren und einen Kriterienkatalog erarbeiten, um Patienten sehr genau einzelnen Untergruppen zuteilen zu können. „Wenn der Arzt seinen Patienten sicher einer bestimmten Gruppe zuordnen kann, kann er besser abschätzen, von welchen Therapien der Patient wahrscheinlich profitiert und von welchen nicht. Das erspart den Betroffenen unter Umständen eine lange Leidenszeit“, erklärt Niesler. Genetische Analysen der Untergruppen sollen darüber hinaus Hinweise auf den Entstehungsmechanismus der jeweiligen Krankheitsvariante und auf mögliche Therapieansätze geben.